Der Leiter des Museums H. Zache, Kunsthistoriker und Museumspädagoge, stellte im Einzelnen die Zukunftspläne für das Historisch-Technischen Museum Peenemünde vor, das nicht nur die Zeit von 1936 Bis 1945, sondern auch von 1945 bis 1990 darstellen soll. Schließlich lud er uns zu einem Besuch im kommenden Jahr nach Peenemünde ein. Dieser Besuch begann am Sonnabend, dem 28. September 2002, also dem Tag, an dem in Peenemünde eine musikalische Großveranstaltung im Rahmen des Usedomer Musikfestivals stattfinden sollte. Uns war anfänglich nicht klar, dass wir die Gelegenheit bekommen sollten, an einem historischen Musik-Event teilnehmen zu können.
Die Fahrt nach Peenemünde wurde sorgfältig von Franz-Herbert Wenz geplant. Neun Personen traten die Reise am Sonnabendvormittag in Bremen an und erreichten nach etwa 7 Stunden Peenemünde. Wir richteten uns im Hotel Reiterhof ein und gewannen anschließend einen ersten Eindruck von dem Museum, das in Räumen unmittelbar neben dem Kraftwerk der Heeresversuchsanstalt Peenemünde im Aufbau befindlich war. H.Zache begrüßte uns als Gäste des Museums und lies uns wissen, dass er als Mitveranstalter des Musikfestivals in der Turbinenhalle des Kraftwerks nebenan für uns zusätzlichen Platz schaffen wolle.
Zwischenzeitlich führte uns H. Profe durch die noch im Aufbau befindlichen Räume des Museums. Unser besonderes Interesse galt dem wuchtigen Triebwerk der A-4-Rakete und dessen Einspritzkopf. Der Treibstoff bestand aus Äthylalkohol als Brennstoff und Flüssigsauerstoff als Oxydator. Das Triebwerk erzeugte einen Bodenschub von 25 Tonnen. Ungewöhnlich erschienen die tassenförmigen Vorbrenner auf dem Einspritzkopf. Dankenswerterweise hat uns H. Profe auch in den nächsten Tagen durch das Versuchsgelände in Peenemünde geführt und uns dabei trotz nur spärlich noch vorhandenen Reste der ursprünglichen Anlagen ein Bild von den damaligen Verhältnissen vermitteln können.
Als wir dann in der Turbinenhalle die zusätzlich bereitgestellten Plätze einnehmen konnten, hatte der Bundespräsident Johannes Rau bereits seine Grußansprache beendet, in der er an das unsägliche Leid erinnerte, das die Bombardierungen von Coventry und Dresden mit sich gebracht haben. Er begrüßte auch den Mann, dem die wiedervereinigten Deutschen so viel zu verdanken haben: Michail Gorbatschow.
Das monumentale War Requiem, das Benjamin Britten eigens für die Wiedereinweihung der Kathedrale von Coventry im Jahr 1962 komponiert hatte, kam nun, 60 Jahre nach der totalen Zerstörung von Coventry durch deutsche Bomber, in Peenemünde wieder zur Aufführung, ganz im Sinne des Komponisten, der sein Werk als Symbol der Versöhnung zwischen den Ländern der einstigen Kriegsgegner verstanden hatte.
Über 250 Mitwirkende aus zwei NDR- Sinfonieorchestern, mehreren Chören aus London, Coventry und Hamburg sowie aus internationalen Gesangssolisten wurden meisterhaft geführt von den Dirigenten Rostropovitsch und Weiser. Sie machten das War Requiem zu einem eindrucksvollen Musikerlebnis. Eigene unvergessene Kriegseindrücke aus unserer Kinderzeit und das mehr oder weniger intensive Einfühlen in die Musik von Benjamin Britten lösten in uns tiefe Emotionen aus, die uns auch die Ambivalenz der modernen Raketentechnik klar vor Augen führte: Die A-4 als erste Großrakete der Welt , die im Einsatz als Vergeltungswaffe V2 bezeichnet wurde, brachte Tod und Verderben für viele tausend Menschen, mit ihr gelang aber auch der erste Start einer Rakete in den Weltraum. Am Ende des War Requiems brach ein nicht enden wollender Applaus aus. (Damit war der Anfang einer langen Reihe von Peenemünder Konzerten gemacht, die im Rahmen des jährlich wiederkehrenden Usedomer Musikfestivals stattfinden.)
Am nächsten Tag, Sonntag dem 29. September, hat uns H. Profe zuerst zu den Großexponaten auf dem Freigelände des Museums geführt. Besonders interessierte uns das Modell der unter der wissenschaftlichen Leitung Werner von Brauns entwickelten A-4- Großrakete, die mit einem Durchmesser von 1,60 m etwa 14 m in die Höhe ragte. Weiterhin sahen wir einen Nachbau der für die Luftwaffe entwickelte Flugbombe Fieseler Fi 103 „V1“, sowie ein sowjetisches Jagdflugzeug des Typs MIG-23, das bis 1990 auf Usedom stationiert war. Zu unserer Überraschung sprang uns ein kugelförmiger Behälter ins Auge, bei dem es sich um den in den 60er Jahren von ERNO entwickelten Titan- Treibstofftank der 3. Stufe der ELDO A- Rakete handelte, dessen Fertigungstechnologie bei Weserflug in Lemwerder erarbeitet worden war und später auch in der Luftfahrttechnik breite Anwendung fand.
Dann fuhren wir zu Plätzen, an denen ehemals Außenanlagen der Heeresversuchsanstalt und der Erprobungsstelle der Luftwaffe standen. Nur wenige Relikte der umfangreichen Anlage waren noch vorhanden, nachdem Bomber der Royal Air Force im August 1943 einen vernichtenden Schlag gegen die Versuchsanlagen geführt hatten. Bis zu diesem Angriff waren in dem Versuchsserienwerk bereits über 300 A-4-Raketen „V2“ montiert worden. Nach Verlegung der Raketenproduktion in das sog. Mittelwerk bei Nordhausen am Südharz wurden weitere 5789 Raketen dieses Typs produziert. Mehr als 1000 V2- Raketen erreichten englischen Boden; nach der Invasion der alliierten Streitkräfte fielen weitere 2100 V2 auf Lüttich, Antwerpen und Brüssel. Kurz vor dem Einrücken der sowjetischen Streitkräfte in Peenemünde wurden unter der Leitung von Kurt Debus Prüfstände und Anlagen in die Gegend von Cuxhaven verlegt. Den Rest hat der Volkssturm gesprengt, so dass fast nur noch Schutt übrig blieb.
Im Laufe der Jahre nach Kriegsende wurde dieser Schutt, der aus geborstenen Bausteinen, Metallstücken und viel Glas bestand, von einer dünnen Vegetationsschicht überzogen, so dass sich das ehemalige komplexe Versuchsgelände scheinbar in eine etwas hügelige Dünenlandschaft zurück verwandelt hatte. Und so bot sich uns dieses Bild auch an den Prüfständen für die V2-Triebwerke und des V2- Abschussstandes sowie der V1-Abschussrampe.
Am Montagmorgen, dem 30. September, suchten wir noch einmal das Kraftwerk auf. Dieses war in seiner elektrischen Leistung von 30 MW so ausgelegt, dass für die V2- Serienproduktion eine ausreichende Menge an flüssigem Sauerstoff bereit gestellt werden konnte. Nach der Demontage unter sowjetischer Besatzung wurde das Kraftwerk wieder instand gesetzt und sorgte für die Energieversorgung der Region bis 1990. In den folgenden Jahren wurden die Anlagen nicht mehr gewartet, so dass sie sich uns nun in einem beklagenswerten Zustand darboten. Nach dem großartigen Musik-Event am Sonnabend war die Turbinenhalle bereits wieder fast vollständig geräumt, und damit auch in ihren Dornröschenschlaf zurück versetzt. Von dem Dach des Kraftwerkes aus hatten wir einen wunderbaren Blick auf den Hafen und die Peene bis hinüber auf den Greifswalder Bodden.
+Im Hafen hatten wir die Möglichkeit, das sowjetische U-Boot U-461 zu besichtigen. Bei einer Länge von 86 m und 80 Mann Besatzung gehörte dieses Boot zu den größten jemals gebauten konventionellen Unterwasser-Raketenkreuzern. Dennoch: Die Enge des für die Mannschaft verfügbaren Raumes würde für klaustrophobisch veranlagte Menschen zum Albtraum werden.
Wesentlich angenehmer empfanden wir nach der U-Bootbesichtigung die Überfahrt mit der Fähre zu der kleinen Insel Ruden. Hier befindet sich ein fünfgeschossiger Messturm, der von der Luftwaffenerprobungsstelle als Messbasis genutzt wurde. Kinetheodoliten filmten den Flugverlauf und lieferten damit wichtige Daten für die exakte Berechnung der Bahnen der zu erprobenden Flugkörper wie z.B. der V1. Heute steht die Insel unter Naturschutz. Viele Vogelarten nutzen dieses Eiland als Rastplatz während ihrer jährlichen Vogelzüge. Auch kommen hier viele gefährdete Pflanzenarten vor. Vom Messturm aus hatten wir eine ausgezeichnete Aussicht auf Usedom und Rügen. Die einzigen Insel- bewohner sind der Hafenmeister und seine Frau. Angenehm war die Rückfahrt zum Peenemünder Hafen in der frühherbstlichen Ostseeluft in einer fast familiären Stimmung.
+In der lauen Luft dieses Abends gingen wir noch einmal an den nahen Ostseestrand. Der nasse Sand reflektierte glitzernd das goldgelbe Licht der untergehenden Abendsonne. Irgendwo hier landete im Jahr 1630 der Schwedenkönig Gustav II. Adolf mit seinem Heer, um in den 30-jährigen Krieg einzugreifen zum Schutz der protestantischen Sache und zur Sicherung der schwedischen Machtstellung. An diesem Strand von Usedom wurde wahrlich Geschichte geschrieben.
Am nächsten Morgen traten wir die Heimreise an.
An der Exkursion nahmen teil:
Franz-Herbert Wenz, Hans-Martin Fischer, Ulrich Bremer, Peter Paeßler, Helmut Minkus, H. Franke, Winfried Selke, H. Völz (Gast), H. Hartmann (Gast)